Diesen Herbst hatte ich ein paar wunderbare Musik-Erlebnisse, die ich nicht einfach dem Vergessen anheim fallen lassen möchte. Sie zeigen fast alle, dass Sie & ich mittlerweile nur vor die Haustür zu gehen brauchen, um Musik auf Weltklasse-Niveau zu hören. Ist das nicht einfach wunderbar? Und natürlich zeigen sie auch, wie seelisch ausgehungert wir alle nach der unsäglichen Corona-Quarantäne sind. Vielleicht hat das aber auch etwas Gutes: Die Wertschätzung des Publikums für Kulturelles ist dadurch vielleicht gestiegen.

Den Anfang machte der international renommierte Pianist William Cuthbertson mit einer Klavier-Matinee im Elztalmuseum Waldkirch. Er bot auf einem phänomenalen Niveau ein paar handverlesene Perlen des romantischen Repertoires: Schuberts Sonate B-Dur (D. 960), Debussys "Isle Joyeuse", Liszts "Jeux d'eaux à la Villa d'Este", Chopins "Andante spianato et grande polonaise brillante" (Op. 22). Obwohl dies alles hoch komplexe, hoch virtuose Musik ist, war sie andererseits auch mir, einem naiven Hörer ohne Vorwissen, auf Anhieb einleuchtend: Ich sah mich im inneren Auge an Bord eines Schiffes, ich sah den leuchtenden Tag der Paradies-Insel; ich sah in den perlenden Arpeggien der Liszt-Komposition Fontänen über Fontänen. Und ich spürte in dieser Musik, die klang, als wäre sie jetzt, im Augenblick, komponiert oder er-improvisiert, Schubert und Chopin, die grandios-tragischen Wunderkinder einer vergangenen Zeit… (Überflüssig zu sagen, aber ich sag es trotzdem: Cuthbertson spielte natürlich auswendig; kein Notenblatt lag auf dem Blüthner-Flügel. Obviously, he knows these pieces by heart ...)

Dann das Freiburger Barock-Orchester mit einem Programm namens „La Foresta Incantata“, also „Der verwunschene Wald“. Auch hier: Absolute Weltklasse; in einer Arena wie dem Freiburg Konzerthaus und von einem Orchester wie dem renommierten FBO vielleicht eher zu erwarten, aber dennoch nicht selbstverständlich. Händel, Geminiani, Vivaldi in dem Klang, wie er vor Jahrhunderten zu hören war; wobei zu sagen ist, dass das Konzerthaus für diesen akustischen Klang fast zu groß ist: Ein großes Sinfonieorchester mag diesen Saal füllen, eine kleines Orchester schafft das nicht. Soll es ja auch nicht! Mal lautmalerisch (Händels „Kuckuck und Nachtigall“, Vivaldis „Jagd“ bzw. „La Caccia“), mal geradezu modern-expressiv anmutend; in Vivaldis „La Notte“ („Die Nacht“) hinübergleitend in ein Jenseits reiner Traumverlorenheit, magischer Trance, in den langsamen Teilen geführt von der runden, süß-rauen, sonoren Blockflöte der Isabel Lehmann, verklingend in meisterhaften, unwirklichen Pianissimi. Deshalb wollte der Beifall fast nicht enden.

Dann ein Vokalkonzert des „Stemning-Ensembles“, in der Merdinger Barockkirche, einem Ort also, den man früher sicher als „Provinz“ eingeordnet hätte. Die rund 25 Sängerinnen und Sänger unter der Leitung von Johannes Kaupp boten unter dem Titel „Komm, Trost der Welt“ Herzzerreißendes über Verlust und Trauer, aber auch über den Trost der Natur oder des Glaubens an himmlische Sphären. Vertonungen lyrischer Texte (das titelgebende Gedicht stammt von Eichendorff), Gebete, Bibelstellen; von modernen Komponisten wie Poulenc, Cornelius oder Rachmaninoff, aber auch Dowland, Bach, Monteverdi oder Brahms.  Dazwischen Mozarts „Fantasie in f-moll“, auf der großartigen Merdinger Orgel interpretiert von Professor Heinrich Walther. Sängerisch der berührende Wohllaut präzise intonierender menschlicher Stimmen, scheinbar aller Erdenschwere enthoben; in Schluss-Pianissimi verklingend wie ein Hauch ätherischer Geister … Ich denke jetzt einmal ganz naiv: Egal ob es „Gott“ gibt oder nicht, so muss es im Himmel sein; und somit kann man sich als Mensch in der Musik das Himmelreich selbst erschaffen – in Hingabe an das unbekannte Mysterium.

Und noch intimer, noch idyllischer wurde es im kleinen Kirchlein von Freiburg-Waltershofen, wo das Duo „La Corda“ gastierte; in der Reihe „Musik am Tuniberg“, die der rührige Waldkircher Orgelbauer Wolfgang Brommer initiiert hat. Auch hier wieder, vor einem dörflichen Publikum, absolute Weltklasse: Aus Weißrussland Katsia Prakopchyk auf der Mandoline und Jan Skryhan auf der klassischen Gitarre, beide Jahrgang 1979, beide ausgebildet auf russischen und deutschen Musikakademien. Das intime Kirchlein war wie geschaffen für den perfekten Klang der beiden Instrumente, und es erklang eine Auswahl, die das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinriss. Kabinettstücke (um nicht zu sagen Gassenhauer) wie Astor Piazollas „Libertango“ und „Oblivion“, Rossinis „Tarantella“ oder Muniers „Carneval in Venezia“, deutschen Hörern besser bekannt unter dem Titel „Mein Hut, der hat drei Ecken“. Bei der phänomenal virtuosen Interpretation der beiden flog einem besagter Hut aber schnell vom Kopfe, gefolgt von den Ohren, weggefegt von einem Sturm absolut präziser Virtuosität. Es seien noch erwähnt Bachs „Inventionen“ a-moll, d-moll, F-Dur; ein „Slawischer Tanz“ von Dvorak; ein Walzer von Raffaele Callace; John Dowlands Klage „Flow my tears“. Ein berührender Klang, auch hier in den Pianissimi geradezu überirdisch transparent. Denn – hab ich’s schon gesagt? Die kleine Kirche bot dafür nämlich die perfekte Akustik! Was wieder mal zur Vermutung Anlass gibt, dass Musiker in der sogenannten „Provinz“ manchmal vielleicht besser aufgehoben sein könnten als in renommierten Konzertsälen.

Draußen gab’s dann Secco und einen deftigen Imbiss, an Stehtischen wurde geplaudert, und ein paar verirrte Regentropfen brachten uns den Himmel in Erinnerung. Eine Stunde lang waren wir ihm ganz nahe gewesen.

La CordaStemning Merdingen Kopie

 

Oben: Duo "La Corda", unten: das STEMNING-Ensemble