Ich habe mich auf diesen Seiten schon öfters über ein paar Häuptlinge der Neurologen-Zunft aufgeregt, die behaupteten, der Mensch habe keinen freien Willen. Ich will diesen deterministischen Scheiß, wir seien nur vom Gehirn dominierte Maschinen, hier gar nicht mehr referieren; er ist in tausend Talkshows und Illustrierten genug breitgetreten worden. Viel wichtiger ist mir etwas anderes: Es hat sich endlich ein kompetenter Mensch zu Wort gemeldet, der fundiert widerspricht. (Ich habe auch widersprochen, aber auf mich hört ja keiner ;-)) Es ist der Freiburger Neurologe Joachim Bauer, Facharzt für Innere Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie. In einem Buch („Selbststeuerung – Die Wiederentdeckung des freien Willens“, Blessing-Verlag) und in einem Interview („Der Sonntag“, 3. Mai 2015, S. 12) legt er ausführlich dar, warum der Mensch die Fähigkeit zur „Selbststeuerung“ besitzt: „Die Fähigkeit zur Intelligenz war das evolutionäre Erfolgsticket unserer Spezies… Das Stirnhirn, also das Organ, mit dem wir nachdenken, Impulse bremsen und uns selbst steuern können, ist bei uns Menschen ungewöhnlich groß. Das sollte uns als Hinweis dienen, dass Selbststeuerung ein Teil der biologischen Bestimmung des Menschen ist.“ Zwar weiß er auch (was niemand je bestritten hat!), dass dem Menschen durch Biologie, gesellschaftliche Prägung und existenzielle Tatsachen Grenzen gesetzt sind, aber: „Innerhalb dieses Korridors der Realität gibt es … beachtliche Spielräume, die ein selbstgesteuertes Leben ermöglichen.“ Bauer meint damit hauptsächlich etwas Meditatives: „Der erste Schritt dürfte darin bestehen, das Hamsterrad des ständigen Gehetztseins zu verlassen und nicht fortwährend nur noch auf die vielen alltäglichen Reize zu reagieren. Das Nahziel sollte also sein, im ganz normalen Alltag immer wieder bewusst innezuhalten, wahrzunehmen, was im Moment mit einem selbst geschieht, und sich zu fragen, ob das jetzt wirklich das Richtige für einen ist.“ Und er macht Mut: „Menschen, die achtsam und planvoll leben und selbst entscheiden, was das Beste für sie ist, sind glücklicher als jene, die sich mit allem abfüttern lassen… Achtsam zu leben schützt also die Gesundheit und verlängert das Leben.“ Ganz wichtig dabei ist Bildung und Aufklärung – „ein Auftrag, der an alle Menschen gerichtet ist… Unwissenheit bedeutet Manipuliertheit. Ohne Aufklärung kein freier Wille.“ Und dann kommt, in der letzten Frage, wie die Welt aussehen würde, wenn alle Menschen ein selbstgesteuertes Leben führen würden, der vorsichtige Ausblick: „Es würde langsamer zugehen, und es bliebe mehr Zeit für Muße übrig. Wir hätten zwar etwas weniger Wohlstand und Konsum, wären dafür aber glücklicher und gesünder.“ Ein bisschen forscher und radikaler ausgedrückt: Das Irrsinns-System des globalisierten Kapitalismus, in dem ein winziger Teil der Menschheit wie ein todkranker Patient in seinem letzten Aufbäumen noch einmal neue Rekorde im Verschwenden aufstellt, während anderswo die Sklaven dahinvegetieren, um diese Verschwendungs-Exzesse möglich zu machen – das ließe sich dann natürlich nicht mehr aufrechterhalten. Niemand würde das auch mehr wollen. Es müsste sich niemand mehr ein breitärschiges SUV kaufen, um seine armselige Persönlichkeit zur Geltung zu bringen. Und einen anderen Seitenhieb kann ich mir hier nicht verkneifen. Bauer nennt als Hauptverantwortliche für das Dogma, es gebe keinen freien Willen, die Neurologen Wolf Singer und Gerhard Roth. Er ist nett zu ihnen und wirft ihnen nur vor, sie hätten ihre Experimente falsch interpretiert. Ich muss, gottseidank, nicht nett sein, und ich sage in aller Schärfe: So ein Dogma wie das, das den freien Willen leugnet, gehört in die selbe Preisklasse wie das trivialdarwinistische Dogma vom „Überlebenskampf“, mit dem unzählige Biologen, Darwin-Nachbeter und Bio-Philosophen den Völkermorden, Massakern und Greueln des 20. Jahrhunderts ideologisch den Weg bereitet haben. Das ist keine unschuldige, „objektive“ Wissenschaft, das ist monologisches Geschwätz von Fachidioten, die ihre vorläufigen Ergebnisse verabsolutieren und meinen, bei der Bewertung ihrer Experimente auf soziale, moralische und ethische Dimensionen verzichten zu können. Es ist eine moralische Atombombe. Es öffnet ideologisch den Weg in eine pseudowissenschaftlich untermauerte Barbarei, gegen die das 20. Jahrhundert sich harmlos ausnehmen wird, wenn wir diesen Mist weiter glauben. Gut, dass jemand widersprochen hat.