Ein Zombie als Autor – wie lange noch?

 

Ein Aufschrei

 

Ich fürchte mich ziemlich vor dem 23. April. Spätestens dann wird nämlich eine Lawine an Gedenk-Events über uns hereinbrechen, weil an diesem Tag vor 400 Jahren ein gewisser Mann aus dem englischen Stratford das Zeitliche gesegnet hat. Und leider hält ein Haufen Leute diesen Burschen für den größten Dramatiker aller Zeiten, der uns die mitreißendsten Dichtungen der Weltliteratur geschenkt hat – obwohl dieser Kaufmann vom Lande, diese Krämerseele das nie und nimmer gekonnt hätte (konnte er doch nicht einmal schreiben). Auf Monsterwellen der Gelehr- und Beredsamkeit wird wieder der Fakespeare aus Stratford in den Himmel gehoben werden – während der echte Barde und sein Andenken in den finsteren Verliesen des Vergessens vermodert.

 

                    Ihm mag's egal sein, mir ist es nicht egal. Und für jeden, der die Literatur und das Schriftsteller-Sein ein bisschen ernst nimmt, ist es eigentlich ein unhaltbarer, ein beschämender Zustand. Wollte man es positiv wenden, so könnte man darin höchstens den ultimativen Erfolg eines kleinen Täuschungsmanövers sehen, mit dem sich einst ein großer Dichter für alle Zeiten den Nachstellungen der Mit- und Nachwelt entzog. (War eine beliebte Sportart, das Mit-Pseudonymen-um-sich-Werfen, bei unseren Elisabethanern.) Leider so gründlich entzog, dass heute, wo ein kommerzieller Rummel ohnegleichen und ein stur lernunwilliges akademisches und mediales Establishment sich in ihren Bastionen verschanzt haben, die Revision dieses Jahrtausendirrtums unmöglicher scheint denn je.

 

                       Und trotzdem. Es kann nicht angehen, dass man sich mit solch einem skandalösen Zustand abfindet: Dass man einen, literarisch gesehen, ziemlichen Blindgänger als größten Dichter der Weltgeschichte verehrt und sich einen Dreck um den wahren Autor schert – den, der das alles WIRKLICH geschrieben hat, mit Herz & Hirn & einer Hand aus Fleisch und Blut; mit den einzigen Medien seiner Zeit: Feder, Tinte und Papier. (Wir erinnern uns: Es gab keine Schreibmaschinen, keine Computer, keine Smartphones. Nicht einmal Stahlfedern.) Dass man stur an einer offenkundigen Absurdität festhält, weil es bequem ist, weil es Gewinn und Pfründe bringt – und dass man die Suche nach der Wahrheit diskreditiert, denunziert und diffamiert, nur weil man die damit verbundenen Unannehmlichkeiten scheut. Dass man Vermutungen, Zirkelschlüsse und Ausflüchte höher schätzt als berechtigte Zweifel, plausible Thesen und gesunden Menschenverstand. Dass man, mit einem Wort, zu feige geworden ist für die Suche nach der Wahrheit und sich stattdessen mit dem Missstand, mit der Misere, mit dem (geistigen) Elend arrangiert.

 

                       Haben wir da übrigens nicht genau das, was Speerschwinger Hamlet psychologisch so treffsicher, so überaus modern, geradezu psychoanalytisch, in seinem Monolog seziert? Dass wir aus Angst vor dem Tod, allgemeiner gesprochen: vor dem Unbekannten, „die Übel, die wir haben, lieber ertragen, als uns in neue, unbekannte (zu) flüchten“? Diese Feigheit, „das ist die Rücksicht, die Elend lässt zu hohen Jahren kommen“. Zweihundert Jahre Elend sind es jetzt ungefähr, seit Weinhändler Garrick in Stratford zum ersten Mal seine Show inszeniert und damit alle besoffen gemacht hat.

 

                  Dies hier will und kann kein gelehrtes Stück sein, nicht einmal eine kurze Zusammenfassung des „case for the real SHAKE-SPEARE“. Bessere, gründlichere Leute haben dazu alles Nötige schon gesagt; ich erwähne nur – nach Pionieren der Verfasserschaftsfrage wie Mark Twain, Henry James oder Sigmund Freud – J.T. Looney, die Ogburns, Robert Detobel, Walter Klier, Uwe Laugwitz, Joseph Sobran und Kurt Kreiler. Nein, das hier ist ein Aufschrei, ein verbaler Faustschlag ins Gesicht arroganter Selbstzufriedenheit, ein Zornesausbruch und Tobsuchtsanfall angesichts einer sturen, unverbesserlichen Borniertheit, die sich für intellektuell redlich hält und in Wirklichkeit doch einfach nur zu feige ist, einen Irrtum einzugestehen. Die hinter der Fassade akademischer Integrität doch nur ihre menschlich-allzumenschliche Eitelkeit und Angst vor Kränkung & Prestigeverlust verbirgt. Es ist ein Wutschrei, ein Pamphlet, eine Hetzschrift meinetwegen, weil jede Geduld einmal ein Ende hat. Erinnern wir uns: Gefälschte „Belege“ und „Beweise“ für ihren Mann kamen hauptsächlich von den Stratfordianern. Und was sich die akademischen und sonstigen Großsiegelbewahrer der Orthodoxie gegenüber den Verfechtern alternativer Verfasserschaftstheorien an Beleidigungen, Verhöhnungen und Geifereien ad hominem im Laufe dieser Diskussion geleistet haben, ist eine Schande, und sie sollten deshalb, meine ich, auf Steinwürfe aus ihrem Glashaus auf unbestimmte Zeit einmal verzichten.

 Für uns aber ist es jetzt wirklich an der Zeit, es frech und fröhlich hinauszuposaunen:

Nieder mit dem FAKEspeare!

Der Mann aus Stratford war es nicht! 

Period“, wie der Engländer sagen würde!

Basta!

 Deal with it!

 

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Ich will etwas dazu sagen, wieso ich mich erkühne, solche Töne anzuschlagen. Zum einen bin ich in Sachen Shake-speare wirklich beschlagen; ich habe primär und sekundär fast alles gelesen, gesehen, gehört, studiert, sogar mitgespielt auf der Bühne, seit den Tagen meines Anglistikstudiums (1977 – 82) immer und immer und immer wieder. Gewisse Sonette sind Teil meines Gefühlshaushalts. In other words: I'm shakesperienced. Dazu gehört auch die Forschungsliteratur, die ich eingangs erwähnt habe. Zweitens bin ich Journalist, und dabei habe ich gelernt, einen Riecher zu entwickeln. Ein Näschen, das intuitiv sagen kann: „Hier ist etwas faul. There's something rotten in the state of Denmark.“ Ein Näschen für das, was faul ist, meine Herren Geschworenen, ein Näschen, das geschult ist, shakesperienced, geschult im schnellen Abwägen von Plausibilitäten, ist mehr wert als hundert Bände Lehrmeinung. Es liegt schon richtig, wo andere vor lauter Bäumen den Wald noch immer nicht sehen. (Beispielsweise den Wald von Birnam, der sich auf Dunsinane zubewegt, obwohl es unmöglich scheint.)

 

                   (Und ehrlich, ich will sie gar nicht mehr sehen, die lächelnden, staatstragenden Schurken, gefügigen Königinnen und folgsamen Bürokraten im Gefängnis des Hamletschen Terror-Establishments, diese Parteioffiziellen Nordkoreas, diese stalinistischen Hungerkünstler. Die gequälte Tochter des Bürokraten, ja, mit der will ich durchbrennen. Und der Unsterbliche, er soll ins Licht treten. Und seinen wahren Namen zurückerstattet bekommen.)

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Wieso schafft das die Anglistenzunft nicht? Das, was in ihrem Fach einer kopernikanischen Wende hin zu einem besseren Paradigma gleichkäme? Bei den Romanisten und im Falle des „poète maudit“ Francois Villon nämlich ist die Aufklärung so eines Pseudonym-Strohmann-Versteckspiels schon lange geräuschlos über die Bühne gegangen. Bei Villon gab es nämlich ein ähnliches Problem wie bei Shakespeare: den hermeneutischen Zirkelschluss, bei dem wegen der dürftigen Faktenlage die Biographie aus dem Werk ergänzt und dann das Werk wiederum im trüben Lichte der spekulativen Pseudo-Biographie gedeutet wird. Aufgemerkt, die Herren Professoren: „Erst vor wenigen Jahren“, schreibt Herausgeber Frank-Rutger Hausmann in der zweisprachigen Reclam-Ausgabe von 1988, „ist der französische Literaturwissenschaftler Pierre Guiraud auf den überzeugenden Gedanken gekommen, dass sich ein unbekannter Pariser Jurist, ein sog. 'basochien', der das Justizmilieu und die Akten der übelsten Straftäter genau kannte, der Lebensumstände von Francois Villon bediente, den es wirklich gegeben hat, und sich dahinter versteckte, um eine geharnischte Justiz- und Institutionenschelte anzubringen.“ Man bemerke: Der Gedanke ist „überzeugend“! Da hat einer offensichtlich nicht so ein Problem mit einer plausiblen Idee. Und ebenfalls erhellend für unser Thema: „Wenn diese These vom Juristen mit überdurchschnittlichen Insiderkenntnissen als dem Verfasser der Villon-Dichtungen stimmt, würden sich manche Fragen und auch Ungereimtheiten erklären, insbesondere die zahlreichen überdeutlichen literarischen Reminiszenzen...“ Müssen wir hier wirklich noch einmal auf die banale Frage verweisen, wie ein Landbursche aus Stratford sich Top-Kenntnisse in einem Dutzend akademischer und höfischer Disziplinen aneignen konnte?

 

                            Und beim Größten aller Zeiten geht diese kopernikanische Wende nicht? Wie klein machen wir ihn damit! Wie farblos, wie gespenstisch! Nichts, aber gar nichts, mit dem er uns irgendwie greifbar vor Augen stünde, als Dichter, als besessener „writer“, ein Mensch aus Fleisch und Blut! (Nur die Kuppler- und Steuergeschichten eben, mit denen der Stratforder aktenkundig geworden ist.)

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Kehren wir also noch einmal zurück zu ihm, dem großen Unbekannten, der, wie ich eingangs sagte, in den Verliesen des Vergessens vermodert. Seit rund vierhundert Jahren.

(Ich kenne ihn ja auch nicht wirklich. Jeder Name ist mir zunächst sowieso nur ein Gespenst, das ich vielleicht mit dem imaginären Gewand eines imaginären Lebens umkleiden kann. Aber selber im Verlies der Zeiten sitzend, kann ich des Speerschwingers Werk und alles Wissen darum und alle plausible Imagination als Ariadnefaden nehmen, der ihn & mich & uns aus dem Vergessen vielleicht ins Freie führt, wo wir befreit aufatmen können.)

 

Da springt er hervor in meinem Gehirn!, sprengt hervor auf seinem Pferd, ein wilder Gesell. Einer, der wütend werden kann. Wenn in der Herberge das Ross angebunden und gefüttert ist & er gegessen & getrunken hat, kritzelt er bei irgendeinem Flackerlicht wütend: „My grief lies onward, and my joy behind.“ Oder er erinnert sich später und kritzelt. Jedenfalls ist er wütend, aber auf eine Art, die ein Sonett schreibt. So macht man das als Gentleman: man verwandelt Emotion in Kunst.

Den Stratford-Mann seh ich andere Dinge tun. Wir wissen ja, welche: Grundstücke, Immobilien, Getreide, Schulden nicht zahlen, Besitz, bestes und zweitbestes Bett. Das ist nicht einmal despektierlich gemeint. Der Junge ist okay. Nur: Er war es nicht. Er ist in dieser ganzen unseligen Geschichte – highly unfortunate! – ein Zombie geworden, ein bemitleidenswerter Untoter.

Ein FAKEspeare.

 

(Nieder mit ihm! Deal with it!)

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Denken wir also daran, wenn die Lawine über uns hereinbricht:

Der Mann aus Stratford war es nicht.

Es war ein anderer:

Der im Verlies, im Labyrinth des Vergessens vermodert.

Suchen wir ihn.

Der Anfang des goldenen Fadens liegt griffbereit im Eingang …

Unsere Finger wissen sehr genau, wie er sich anfühlt ...

 

Nieder mit dem FAKEspeare!

 

Dem unbekannten Speerschwinger ein dreifach kräftiges:

 

  • Hooray!

  • Hooray!

  • Hooray!

(For he's a jolly good fellow... etc.)

 

Rede zum Schäckspeare-Tag 2016