zu lesen im herbst

Wenn ich im Dorf ankomme, in Licht und Luft trete, fühle ich sie bei mir, und noch vieles andere, und die Welt ist leicht. Jeden Sommer-Feierabend, da ich aus dem Bus aussteige und dieses Licht durchquere, in das kurze Kopfstein-Gäßchen zwischen Kirchhofmauer und Rathaus hineingehe, möchte ich bei ihnen sein. Immer sind sie da: Brüder –

Stimmen, die jung und dunkel sind, männlich –

Dann möchte ich sie besuchen.

Ihnen ist leicht: sie sind tot und dürfen glänzen. Unter Kastanien ist alles goldene Idylle, kein Rest bleibt, alles löst sich...

…dann ein Zweifel: Sollte es wirklich so einfach sein?

(Wenn im Herbst die Trauernebel aufziehen, reden die Lebenden oft über diese Toten. Sie mahnen und finden Formeln, aber haben sie einmal geschwiegen und zugehört?)

Wenn es also ganz still ist auf dem Kirchhof und ich die Klinke drücke und vorsichtig  die Kapelle betrete und sie schweigen lasse –

– dann bewegt es auf einmal blind und lautlos die Lippen und zieht als stummes Heer an mir vorüber –

Namen. Regimenter. Stefan Mangold. Wir waren da. Leo Rotzinger, Anton Landmann. Wo die Splitter uns zerfetzen und die Gedärme im Stacheldraht hängen. Wilhelm Schnurr, Karl Hintereck, Karl Schopp, Adolf Herz. Das waren wir. Franz Xaver Maier, Adolf Baldinger, Josef Berger, Pirmin Ludwig, Josef Mathis. Granaten, Gräben, Trichter, Maschinengewehre. Emil Selinger, Albert Egloff, Adolf Gerteisen, Theodor Kürz.

Eine Stimme plötzlich ganz stark – Erinnerung – ein anderer Feldgrauer mischt sich unter, der später vieles aufschrieb –  seine Worte flüstern – weiter den Stimmen lauschen – 

Nun werden sie ein Fluss, ein Horizont, ein fernes Stöhnen und Heulen und Winseln wie aus Lazarettsälen –

Vorname, Nachname, Regimentszugehörigkeit, Todesdatum. Stefan Mangold + I+RG+ 109 +  9. 10. 14. Soviel hatte man aufgeschrieben für die Nachwelt, so viel Platz räumte man dem Einzelnen doch ein! Man füllte eine ganze Zeile mit ihm, der Steinmetz glich unterschiedliche Namenslängen durch Variation des militärischen Truppen-Kürzels aus.

Josef Weis. Johann Selinger. Johann Fränzle. Franz Xaver Streule. Vier Tafeln voll. Marschierende Regimenter, gute, brave, tapfere Buben.  »Im Schrank hängen noch meine kurzen Knabenhosen.«

Sie brodeln, sie summen unheimlich. Dazu ein schwerer, süßlicher Geruch. Er kommt von den Blumen, die frisch in die Kapelle gestellt worden sind, Blumen mit großen weißen Blüten.

Süßlich stinkend sind auch diese Männer verwest, gingen sie in Fetzen, verrotteten, auf schrecklichen Totenäckern. Die Blumen sollen das irgendwie verschönern, überdecken, aber sie machen es nur klarer…

Und nichts folgte, was dieses unselige Opfer noch zum Guten gewendet hätte –

noch rücksichtsloser, noch brutaler wurde gebrüllt – !

Und so finden wir an der anderen Wand der Kapelle den Triumph des Gebrülls, den »zweiten« Weltkrieg. Mit ihm begann man Vernichtungsorgien also zu zählen! Man führte eine römische Nummerierung für Apokalypsen ein!

Da ist keine persönliche Würde mehr, die zuerst den Vornamen, dann den Nachnamen nennt wie auf der anderen Seite. Keine Todesdaten mehr, Regimentszugehörigkeiten – bescheidene Ehren –

Bürokratische Listen (»Nachname zuerst!«), in ungefähren Reihenfolge des Sterbens in groben Zeiträumen zusammengepfercht: Hintereck Paul + Bärmann Leo + Gretzmeier Franz + Gerteisen Anton + ... Am Schnürchen hintereinander, von wegen eine ganze Zeile für einen!, nein, hintereinander weg, das sparte Platz, es waren ja viel mehr unterzubringen als damals…

(Damals, das war einmal »DER WELTKRIEG« überhaupt gewesen!, bevor„Im Westen nichts Neues“ auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde...).

Keine Zeit mehr für langwierige Ehrenbezeugungen! Abmarsch ins Massengrab! Nachname zuerst!!! „Wohl verrückt geworden, was?“

Schließlich die Vermißten, die ja gewöhnlich das schlimmste Schicksal hatten: Mit Nachnamen säuberlich alphabetisch geordnet - rationell zusammengefaßt. Und Frauen! Gall Maria + Karle Emma + Menner Veronika + Keller Erna + …

Insgesamt sind es fast doppelt so viele Namen wie an der anderen Wand –   

Es musste diesmal buchhalterisch behandelt werden, das Massensterben, es war anders nicht mehr in den Griff zu bekommen, es waren ja viel mehr Tote als beim ersten Mal, Schandmal.

»'Deutschland muß bald leer sein', sagt Katczynski.«

Die Lilien füllen mit ihrem Brodem die Luft, es ist alles so gesalbt im Totenhemd, überschminkt, es ist nur zu ertragen, weil man ihnen zu-schweigt, sie wurden verraten und verzeihen uns doch –

Jeden Sommerabend, den ich in diesem Licht über die Straße gehe, in das kurze Kopfstein-Gäßchen hinein zwischen Kirchhofmauer und Rathaus, sind sie da: Brüder, Stimmen, die leise und dunkel sind, männlich. Ihnen ist leicht: sie sind tot und dürfen glänzen.

Dann möchte ich sie besuchen.      

 

totensonne 1

totensonne 2

totensonne 3 

totensonne 4