Die „Affäre Aiwanger“ hat uns nun geraume Zeit beschäftigt, und natürlich möchte ich, der ich mich seit Jahrzehnten mit dem deutschen Nazismus beschäftige, dazu noch ein paar Worte verlieren.

Das Wichtigste, was ich sagen möchte (und was ein paar Kommentatoren offensichtlich überhaupt nicht begreifen), ist Folgendes:

  1. Das Flugblatt ist eklig und eine ganz miese Nummer.
  2. Trotzdem ist damit natürlich keineswegs ausgeschlossen, dass es für eine politische Kampagne benutzt wird (heute sagt man ja gerne „instrumentalisiert“). Nach dem Motto: Hier haben wir den Scheißekübel, den wir über diesem Provinzheini auskippen können. Das überlebt er nicht.

 Nun ist es leider so, dass es hierzulande eine Menge Leute gibt, die auf 1. herumreiten, den 2. Punkt aber im Brustton der Empörung abstreiten. Da ist zum Beispiel der Deutsche Journalisten-Verband, der das mehrfach getan hat und in Punkt 2. nur ungerechtfertigte Medienschelte sieht; da war zu Punkt 1. auch in einem Deutschlandfunk-Interview am 7. 9. 23 eine leitende Persönlichkeit der KZ-Gedenkstätte Buchenwald zu hören, die in der ganzen Sache nur den Beleg sah, dass unsere „Erinnerungskultur“ scheitert und „Neurechte“ wieder im Kommen sind. Ach Gott ...

 Bei dieser Schiene gibt es eine komplette Blindheit auf dem politischen Auge: eine sträfliche Fahrlässigkeit, mit der das politische Kalkül hinter dieser „Affäre“ ignoriert wird. Zwar schreibt der DJV: „Das zeigt, wie gering der Stellenwert des Grundrechts Pressefreiheit ist, wenn politisches Kalkül die Oberhand gewinnt“, meint damit aber Söders Parteinahme und will gleichzeitig partout nicht sehen, dass hier natürlich auch ein anderes politisches Kalkül im Spiel sein könnte – von der anderen Seite! Denn politisches Kalkül kann durchaus auch von „links“ kommen, von „woke“ oder noch ganz woanders her.

 Und das ist eben genau der Punkt. Natürlich ist hier politisches Kalkül im Spiel!

 Die absurdeste Pointe der ganzen Sache ist aber: Wer 2. leugnet, leistet dem, was er bekämpfen will, Vorschub! Wer 2. leugnet, stärkt die, die dieses Ausblenden, diese Scheuklappen, diese ausschließliche Konzentration auf 1. keinen Bock mehr haben mitzumachen! Keinen Bock mehr, auf jeden medial gestarteten Empörungszug aufzuspringen - vielleicht, weil sie in den letzten drei Jahren tagtäglich erlebt haben, wie man sie als Nazis diffamiert hat, bloß weil sie zum Beispiel zu einer bestimmten Atemwegskrankheit eine andere Meinung hatten als die medial aufgeputschte Mehrheit.

 Wer heute überall „Nazis“ wittert, der stärkt sie. Genial! Pädagogisch top! Reflektierte psychologische Intervention! Könnte aus einem Handbuch für Doppelagenten stammen …

 Wir müssten abwägen: Was wiegt schwerer? 1. oder 2.? Für mich wiegt 2., das ich für gegeben halte, Punkt 1. auf. Ich halte es für geradezu idiotisch, die Möglichkeit einer Schmutzkampagne zu leugnen.

 Ich zitiere zum Schluss meinen alten Schulfreund G.K., der zu Anfang dieser „Affäre“ auf Facebook kommentierte: „Vielleicht finde ich in meinen alten Schulranzen auch noch ein versteinertes Käsebrot.“