In mir streiten sich

Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum

Und das Entsetzen über die Reden der Zeitungsschreiber.

Aber nur das zweite

Drängt mich zum Schreibtisch.

 

Frei nach Bert Brecht ist es für mich nicht der "Anstreicher" Hitler von damals, sondern es sind - ebenfalls mit einem Brechtschen Wort benannt - gewisse Zeitungsschreiber, deren organisierte Meinungsmacht mich entsetzt und zum Schreibtisch drängt. Ich weiß echt nicht mehr, was die alle für Drogen genommen haben. Schon am 13. Oktober nannte der tägliche Newsletter, den ich vom SPIEGEL bekomme, Angela Merkel "Gewinnerin des Tages", denn sie sei jetzt frei, sei fein raus, könne rumreisen, Papst besuchen und so. Heute, 15.10., vermeldet das Kaiserliche Hofblatt, China habe Merkel "als Freundin des chinesischen Volkes" geehrt, und schreibt folgendes:

"In Deutschland kommt morgen ein ganzes Magazin über Merkel heraus, 120 Seiten, 16 Autorinnen und Autoren über 16 Jahre, 16 »Wir schaffen das«-Sticker gibt's dazu. Die schönste Idee aus meiner Sicht: Die 250 Eilmeldungen mit »Merkel« in der Überschrift, die die Nachrichtenagentur dpa seit dem Amtsantritt der Kanzlerin verschickte, sind als Extraheft beigelegt. »Ein kleines Stück Zeitgeschichte« nennt es Magazinmacher Oliver Wurm, der schon das Grundgesetz als Zeitschrift herausbrachte."

Ist es nicht schön, dass er "Wurm" heißt, der agile Blattmacher? So wie Schillers kriecherischer Intrigant in "Kabale und Liebe"? Ja, "der Wurm hat geplaudert"! Und 16 Sticker mit dem ominösen Satz, der mit Schuld ist an AfD, PEGIDA & Co. und der immer unversöhnlicher werdenden Spaltung unserer Gesellschaft! Und dieser SPIEGEL war einmal die kritische Instanz unserer Republik. Es ist zu Fremdschämen.

Um hier nur einen ganz selbstverständlichen Punkt zu erwähnen: Der krachende Absturz der CDU am 26.9.2021 ist ja wohl Merkels Verdienst. Er ist die Quittung für ihre katastrophalen 16 Jahre Stillstand, Aussitzen, Lähmung, Behäbigkeit. Und niemand thematisiert das? Alle reden von Laschet, der die Sache ausbaden muss? Und Merkel ist fein raus? Darf sich in ihrer Beliebtheit sonnen? Und andere sollen den Scherbenhaufen zusammenkehren und kitten, was zu kitten ist? Und das Magazin, welches einmal die politische Instanz schlechthin war, spricht nicht darüber?

Ach so, ja ja, der Atomausstieg 2011. Die SPIEGEL-Leute sollen mal in ihr Archiv schauen, wie dilettantisch der damals organisiert wurde: nämlich laut ihrem eigenen Artikel so, dass er die großen Energiekonzerne förmlich zwang, Entschädigung in hundertfacher Millionenhöhe zu erstreiten! Alles schon vergessen? Und am Schluss hat Merkel Versager wie Altmaier und Scheuer geduldet, der ebenfalls Hunderte Millionen in den Sand gesetzt hat! Und der SPIEGEL thematisiert es nicht?

Dafür tun es andere, zum Beispiel das "Handelsblatt", das Ralph Bollmanns große Merkel-Biografie bespricht und sagt: "Auf die Disruptionen der neuen Zeit hatte die Christdemokratin keine strategischen Antworten, nicht auf die Digitalisierung, nicht auf den Klimaschutz, nicht auf Bildungsanforderungen. Die Infrastruktur rottete vor sich hin. Sie habe nicht als 'halbtotes Wrack' aus der Politik ausscheiden wollen, zitiert Bollmann und schlussfolgert, 'einen Reformstau hinterlässt sie in vielen Bereichen gleichwohl'".

Verlorene Jahre. Verpasste Chancen. Und eine Frau an der Spitze, die dafür eine enorme Verantwortung trägt - und die niemand zur Verantwortung zieht. Good night, and good luck.