Toleranz gegenüber Intoleranz ist IRRSINN
Die Kacke ist am Dampfen. Nachdem die Flüchtlingskrise ihren ersten, unangenehmen Höhepunkt erreicht hat, wird der öffentliche "Diskurs" in der Bevölkerung zunehmend emotional und aggressiv. Dabei gibt es natürlich die Rechten, die mit "Stürmer"-Methoden wie einst die Nazis (Fäschungen, Lügen, Greuelpropaganda über Facebook) das Feuer schüren, um darauf ihre braune Suppe zu kochen; auf der linken Seite gibt es die (polemisch "Gutmenschen" genannten) liberalen, politisch korrekten Menschenfreunde, die guten Willens sind, eine Willkommenskultur aufbauen und dabei die negativen Folgen der Migrantenflut (Staatsversagen in bisher nicht gekanntem Ausmaß) gerne bagatellisieren. Eine der zentralen Lebenslügen dieser Multikulturalisten möchte ich im Folgenden aufs Korn nehmen. Nicht, weil ich den multikulturellen Gedanken denunzieren will, sondern weil ich ihn retten will, indem ich seine zentrale Schwachstelle aufzeige und daraus einen praktischen Schluss ziehe.
Insofern gehöre ich zu einer dritten Gruppe in dieser Diskussion, der Gruppe, die zwischen den Stühlen sitzt. Und zwar deswegen, weil sie beide Seiten studiert und dabei sieht, dass an allen Standpunkten etwas Wahres ist, auch wenn noch eine Menge Müll dazukommt. Diese Gruppe zwischen den Stühlen möchte das Wahre behalten und den Müll über Bord werfen. Insofern bemüht sie sich um einen wahrhaft demokratischen Diskurs, der das Ziel hat, nach sorgfältiger, differenzierter Analyse des Problems zu einer konstruktiven Lösungs-Strategie zu kommen.
In der folgenden, langen Collage aus Zitaten des amerikanischen Philosophen Ken Wilber geht es also um die zentrale Schwachstelle der Multikulturalismus-Idee. Diese Schwachstelle ist mir seither so schmerzhaft klar, dass ich nicht umhin kann, als sie mit Euch zu teilen. Sorry für diese lange Vorrede, aber glaubt mir, es lohnt sich.
Im Prinzip geht es ganz einfach darum, dass Toleranz vernünftiger und besser ist als Intoleranz. Dann müssen die Toleranten, sagt der Philosoph, dazu aber auch STEHEN und müssen jede Form von Intoleranz, die sich ihnen aufzwingen will, verwerfen und bekämpfen. Sie dürfen nicht in den Irrtum verfallen, alle Meinungen seien gleichwertig. Nein, aufgeklärte pluralistische Vernunft ist höherwertig als unaufgeklärter Fundamentalismus - und sie muss darauf auch selbstbewusst BEHARREN, sonst begeht sie Selbstmord.
In Wilbers Worten:
"Die multikulturelle Bewegung mit ihrem Programm der Toleranz aller Kulturen... ist ein gutgemeinter Schritt in die richtige Richtung, der sich dann aber doch als widersprüchlich und sogar heuchlerisch erweist... Multikulturalismus ist ein ebenso achtbarer wie rationaler Ansatz, der nur seinen eigenen Standort falsch einschätzt... Seine Toleranz ist durch und durch rational, und das kann auch nicht anders sein. Rationalität ist die einzige Struktur, die andere Strukturen zu tolerieren vermag... Nur im Raum eines rationalen Pluralismus können unterschiedliche Gefühle, Gedanken und Wünsche freies Spiel und gleiche Stimme haben."
Leider, sagt Wilber, zieht der Multikulturalismus aus diesem Pluralismus und daraus, dass alle Meinungen irgendwie relativ sind, den falschen Schluss, sie seien gleichwertig. Aber:
"Das kann schon deshalb nicht richtig sein, weil der Multikulturalismus alle engeren Perspektiven - mit Recht - zurückweist, also doch nicht alle Perspektiven als gleichwertig anerkennt...Pluralistische Toleranz ist besser als engstirnige Intoleranz."
Und so landet die Toleranz bei der paradoxen Tatsache, dass sie Menschen und Meinungen toleriert, die ihrerseits die Toleranten NULL tolerieren. Und hier, so sagt Wilber, geht "Multikulturalismus in Wahnsinn über."
Denn:
"Es mag einer vom Standpunkt der Rationalität (Vernunft) aus beschließen, die Ideen eines mythisch (fundamentalistisch) denkenden Menschen zu tolerieren, doch damit wird er vermutlich nicht erreichen, dass solche im mythischen Denken (fundamentalistischen oder Lager-Denken) befangenen Menschen auch ihn tolerieren - eher werden sie ihn, historisch war es jedenfalls so, auf dem Scheiterhaufen verbrennen, um seine Seele zu retten (und solche Retter können Christen, Marxisten, Muslime oder Shintoisten sein)."
Wilber zitiert als Beispiel für diesen fehlgeleiteten Multikulturalismus/Kulturrelativismus ein Gerichtsurteil, in dem ein Chinese freigesprochen wurde, der seine Frau aus Eifersucht brutal erschlagen hatte. Die Verteidigung hatte argumentiert, "so machen sie das halt in China", und man müsse diese kulturellen Unterschiede respektieren, weil keine Perspektive besser sei als eine andere.
Wilber schrieb dies im Jahre 1995. Und hat sich dadurch als Prophet erwiesen, denn mittlerweile erleben wir den Irrsinn leider jeden Tag. Kampf der Kulturen, Intoleranz führt Krieg gegen Toleranz: Mit Rushdie und dem Tötungsaufruf gegen ihn fing es an; dann die Mohammed-Karikaturen und der Brand, den islamistische Hetzer damit entfachten; Charlie Hebdo; Paris am 13. 11. 2015; IS, das Monster aus der tiefsten Hölle menschlicher Perversion. Und die Intoleranz findet verständnisvolle Sympathisanten: Leute, die Merkels Flüchtlingspolitik kritisch gegenüberstehen (und das ist die halbe Bevölkerung!), werden als Nazis diffamiert. Leute, die konstatieren, dass die Grapscher, Vergewaltiger und Taschendiebe von Köln zu einem erheblichen Teil Nordafrikaner waren, dito. Und manche Grüne machen jetzt wieder den Vorschlag, das betäubungslose Schlachten von Tieren (Schächten) zu erlauben, weil es im Islam und Judentum ja religiös geboten sei. Dass sie dabei ihre eigene grüne Ethik (schonender Umgang mit Tieren!) mit opfern - merken sie das nicht?
Die ganze Islamdebatte der letzten Jahre, Pegida, AfD - sie sind aus dieser schmerzlichen Wahrheit entstanden: dass Toleranz zu weit gehen kann. Und ich behaupte: Einen Großteil ihrer Wucht haben sie gerade aus der Tatsache gezogen, dass viele Wohlmeinende diese schmerzliche Wahrheit verdrängten und immer noch verdrängen. Das ist die Wunde, in die die zahllosen Agitatoren von rechts den Finger legen. Und man muss es leider sagen: Der Punkt geht an sie.
Und deswegen gebe ich allen bedingungslos recht, die den Islam auffordern, endlich seine Aufklärung nachzuholen; die seine Intoleranz, Gewaltbereitschaft und sein patriarchalisches Machotum nicht akzeptieren; die Anpassung an die kulturellen Werte Europas fordern; die auf keinen Fall zulassen wollen, dass so etwas wie die Scharia den modernen Rechtsstaat ersetzt (möge er noch so viele Schwächen haben). Wer darin schon die Nähe zum Nazitum sieht, beweist nur, dass er auf einem Auge blind ist.
Ken Wilber: Eros, Kosmos, Logos. Eine Vision an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend. Wolfgang-Krüger-Verlag, Frankfurt 1995, S. 254 ff.