Wir Super-Verdränger mit dem schlechten Gedächtnis
Es ist immer wieder interessant, in alte Zeitungen und Zeitschriften zu gucken. Gerade wir Ritter vom notorisch schlechten Gedächtnis können da oft überraschende Einsichten gewinnen. Ich war früher treuer „Spiegel“-Leser, habe viele Ausgaben aufgehoben und schaue immer mal wieder in eine rein. (Sie liegen bei mir auf dem Klo.)
Da gab es beispielsweise 2007 einen Artikel über die Privatisierung und den bevorstehenden Börsengang der Deutschen Bahn. Berichtet wurde unter dem Titel „Sprengkraft auf Schienen“, dass sich in der SPD heftiger Widerstand regte, weil die Genossen sich von ihren Vertretern (zB Verkehrsminister Tiefensee, SPD) in der Großen Koalition über den Tisch gezogen fühlten. Lustig (oder eben überhaupt nicht lustig) ist es, zu lesen, wie die Befürchtungen von damals sich heute bewahrheiten: dass es der Bahn schlechter gehen werde, weil die öffentliche Hand „auf irreversible Weise die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltungsmöglichkeiten“ verliere und „einen Kernbereich öffentlicher Daseinsvorsorge den Renditeerwägungen globaler Kapitalmärkte“ aussetze. (Nr. 29 vom 16.7. 2007, S. 22.)
Joa, „told you so“, gell. Dann sitzt man wieder auf dem Klo und zieht irgendeine andere Nummer aus dem Regal, und – peng! schauen einem zwei CSUler entgegen, Peter Gauweiler und Willy Wimmer, die an Angela Merkel einen Offenen Brief geschrieben haben (Nr. 29 vom 16.7.2016). Darin fordern sie Merkel auf, sich für ihr Eintreten für die Irak-Invasion der Amis 2003 zu entschuldigen. Denn jetzt, 2016, habe eine britische Kommission ja amtlich festgestellt, dass diese Invasion eine Vollkatastrophe gewesen und bei der propagandistischen Vorbereitung gelogen und betrogen worden sei. Gerhard Schröder aber, den Merkel kritisiert habe, habe das Richtige getan: sich an diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nicht zu beteiligen. Die beiden Schreiber schlagen einen Bogen zur aktuellen Politik, weil Merkels Kabinett kurz zuvor ein „Weißbuch“ verabschiedet hat, das ein „globales deutsches militärisches Engagement postuliert“. Der Schlusssatz ist der Hammer: „Abgesehen davon, dass von den Verfassern des Grundgesetzes das Gegenteil für unsere Streitkräfte vorgesehen war, halten wir das für keine angemessene Antwort auf den fürchterlichen Fehlschlag im Irak, in den Sie auch unser Land hineingezogen hätten, wenn Sie gekonnt hätten.“
Aha. Achso? Ja klar! Quasi als treuer Vasall der USA hätte sie Deutschland damals in einen Krieg hineingezogen! Das kommt mir irgendwie bekannt vor …. Woran erinnert mich das bloß…?
Ah, jetzt komm ich drauf, denn da ist wieder ein „Spiegel“, vom 8. Dezember 2013, kurz vor den Schießereien auf dem Kiewer Maidan und dem Umsturz. Berichtet wird, dass Viktor Janukowitsch, der rechtmäßig gewählte Präsident der Ukraine, ein geplantes "Assoziierungsabkommen" mit der EU nicht unterschrieben und damit in Vilnius die Merkel und die ganze EU-Führungsriege düpiert hat. Natürlich wissen alle, dass das wegen der Russen war; Janukowitsch konnte es sich nicht leisten, sie wegen einer vagen EU-Beitrittsperspektive zu verprellen. Bald darauf musste er aus seinem umstellten Regierungsgebäude flüchten; es kam Poroschenko; Putin annektierte die Krim; Kiew führte einen Bürgerkrieg gegen den russisch geprägten Osten; und im Februar 2022 intervenierte Russland dort militärisch.
Joa, hätte man sich eigentlich denken können. Oder? Jetzt mal ehrlich, wen kann sowas überraschen? Aber blöd muss man halt sein. Trotzdem, Kompliment für die „Spiegel“-Redakteure Jan Puhl und Christian Neef, die damals, 2013, in einem ergänzenden Gespräch mit Polens Ex-Präsident Kwasniewski Folgendes über die Ukraine sagten: „Wozu braucht die EU ein Land, das ein Flickenteppich mit riesigen sozialen Unterschieden ist, wo es kein einheitliches nationales Interesse gibt? Wir haben schon den Beitritt Rumäniens und Bulgariens bereut.“ Chapeau, die Herren! Griechenland habt ihr zwar vergessen, aber Eure Bemerkung hat den Nagel sowas von auf den Kopf getroffen! (Wie wir seit Emmanuel Todds "Westen im Niedergang" wissen können.)
Joa, und jetzt, elf Jahre später, Dezember 2024, hängen wir also wegen dieser EU-Ukraine-Schnapsidee de facto im Krieg mit Russland und lassen uns von einer absurd-idiotischen Kriegspolitik ruinieren. Merkel ist ja fein raus, aber sie ist mitschuldig an der jetzigen Situation: Bis Ende 21, bis zum Vorabend der militärischen Intervention Russlands, war sie Kanzlerin. Hat sie was unternommen, den Krieg zu verhindern? ("Hey Wladi, hier ist Angie!") Oder ließ sie die Sache laufen, wohl wissend, dass WP intervenieren & damit die Arschkarte haben würde?
Aber was reg ich mich auf. Offensichtlich interessiert es ja nur eine Minderheit, was hier für ein schmutziges Spiel getrieben worden ist & wird. Dass diejenigen, die uns regieren – wider besseres Wissen –, offensichtlich immer die wirklich blödeste Handlungsvariante wählen. Wie gesagt: in alte Zeitschriften gucken. Dann springt einem das mit dem Arsch ins Gesicht.
M.S., 8.1.25
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