Die D-Moll-Partei hat sich korrekt verhalten
Es schien wieder glasklar zu sein. Wer war schuld am „Eklat“ im Thüringer Landtag? Wer betrieb "Sabotage", „legte den Landtag lahm“? „Björn Höckes Truppe“ natürlich, die böse D-Moll-Partei (A – f – d). Dies der Eindruck, den der unbedarfte Zuschauer aus dem medialen Lärm um diese Vorgänge gewinnen musste. Es wurde der Thüringer Verfassungsgerichtshof angerufen, der (mehr oder weniger salomonisch) entschied, Alterspräsident Jürgen Treutler von der AfD müsse über die von der CDU beantragte Änderung der Geschäftsordnung abstimmen lassen; und damit dürften im ersten Wahlgang zur Wahl des Parlamentspräsidenten auch gleich andere Parteien Vorschläge machen.
Aha. Darum ging es also. Das war also vorher nicht möglich gewesen. Und warum nicht? Na, weil die bestehende Geschäftsordnung es nicht vorsah. Interessant. Es war also dieser Punkt, an dem vor allem die CDU-Abgeordneten sich zu ereifern begannen, denn sie hatten offensichtlich damit gerechnet, dass sie die stärkste Fraktion sein und dadurch das Vorschlagsrecht für den Kandidaten haben würden. Jetzt stand blöderweise das Vorschlagsrecht plötzlich der D-Moll-Fraktion zu. Und der Alterspräsident durfte diesen etablierten Ablauf nicht nur durchsetzen, er musste es sogar. (Der Knaller an der Sache: Die CDU hätte zum Ende der vorhergehenden Legislaturperiode ein Änderung der Geschäftsordnung im beschriebenen Sinne sogar haben können, hatte sie aber abgelehnt!)
Also: Die Änderung der Geschäftsordnung (mit dem Ziel, dass gleich mehrere Kandidaten vorgeschlagen werden konnten) wurde deshalb beantragt, weil nicht nur die CDU, sondern auch die anderen Parteien einen AfD-Parlamentspräsidenten verhindern wollten. Und das wurde dann natürlich zum Zankapfel, denn es ist verfassungsrechtlich durchaus strittig, ob das geht. Die beantragenden Parteien beriefen sich auf ihr Recht als Abgeordnete und auf das Recht des Parlamentes, sich selbst zu organisieren; die D-Moll-Partei berief sich auf die bestehende Geschäftsordnung, der zufolge der Landtag dann konstituiert ist, wenn er einen (Landtags-)Präsidenten gewählt hat, und erst dann die Geschäftsordnung geändert werden kann. (Man könnte natürlich zu Recht fragen, warum es überhaupt einer konstituierenden Sitzung bedarf, wenn ein Parlament schon durch sein bloßes Zusammentreten als solches handlungsfähig, also de facto konstituiert ist.)
Man muss kein AfD-Fan sein, um zu sehen: Wenn Verfassungsrechtler uneinig sind, ob ein Parlament schon vor der Konstituierung (einschließlich Präsidentenwahl) handlungsfähig ist oder nicht, ist es sicher verständlich, wenn ein Alterspräsident die bestehende Geschäftsordnung vollziehen will. Es ist seine Pflicht. Alles andere könnte ihm ja auch zum Nachteil ausgelegt werden.
Es hat in unserer Republik übrigens schon eine Menge solcher verfassungsrechtlicher Streitfragen gegeben, und manche waren ungleich wichtiger - zum Beispiel, ob eine Konferenz aller Ministerpräsidenten unter Umgehung des Parlaments Lockdowns und Schulschließungen beschließen darf. Oder ob es in unserem Land sein darf, dass ohne Beschluss des Parlaments neue NATO-Raketen aufgestellt werden.
Einen Teil der Analyse dieses Sachverhalts verdanke ich dem Spieltheoretiker Prof. Dr. Christian Rieck (https://www.youtube.com/watch?v=AiTMYwoSHLU). Rieck weist auf das grundlegende Prinzip hin, dass eine Geschäftsordnung für ein demokratisches Gremium aus einer Unwissenheit heraus entsteht, wer davon später eventuell profitiert und wer nicht („veil of ignorance“, "Schleier des Unwissens"). Man könnte es auch „Neutralität“ nennen. Und diese - vorher festgelegte, sehr wichtig! - Geschäftsordnung, diese Spielregeln müssen natürlich für alle gelten. Das ähnelt dem im Rechtswesen geltenden, ehernen Grundsatz "nulla poena sine lege", "keine Strafe ohne (vorhergehendes) Gesetz". Man kann dann eben nicht hingehen und sagen: „Momendemal, das geht aber nicht! Das muss geändert werden, und zwar subito!“
Sehr nützlich ist auch Riecks Hinweis, dass es deshalb manchmal einen "tie-break", einen "Pattbrecher", einen Schiedsrichterball braucht. Den hat der Thüringer Verfassungsgerichtshof geliefert, nachdem in der Verfassung diesbezüglich nichts drinstand. Der Fall war nicht vorgesehen, dass die stärkste Fraktion von allen anderen abgelehnt wird. Also gut, wir erlauben die Aufstellung mehrerer Kandidaten für das Präsidentenamt und ersparen uns dadurch nervige sinnlose Wahlgänge. Aber das kann man der D-Moll-Partei nicht vorwerfen. Eigentlich muss man sogar sagen, dass sie sich korrekt verhalten und die CDU den korrekten Ablauf sabotiert hat.
Leider stellen viele Medien es, im Framing, in der Wortwahl so hin, als wäre die D-Moll-Partei der Krawallmacher, der Radaubruder, der das Parlament missbrauchen will – zur „Machtergreifung“. Obwohl – eine löbliche Ausnahme machen die Kollegen von der „WELT“, deren Video über die dann erfolgte konstituierende Sitzung ich jedem empfehle (https://www.youtube.com/watch?v=5Gx1M5RXAbE). Der Kollege Lutz Stordel ordnet die Sachverhalte differenziert ein und weist (so wie auch Christian Rieck) darauf hin, dass zum Ende der vorhergehenden Legislaturperiode eine Änderung der Geschäftsordnung im beschriebenen Sinne anstand, die CDU die Änderung aber ablehnte.
Wenn alle Beteiligten ihre Lektion lernen, könnte aus dieser Rauferei zu Beginn eine einigermaßen konstruktive Zusammenarbeit entstehen. Und was ist die Lektion? Wirf deinem politischen Gegner nicht undemokratisches Verhalten vor, wenn strittig ist, worin demokratisches Verhalten besteht und deshalb dein Verhalten ebenfalls undemokratisch sein könnte.
Mike Schaefer
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